«Zeige deine Wunde»
- Die «Freien Waldorfschulen» sind keineswegs «frei», sondern wie alle Schulen jederzeit von staatlicher Seite schließbar; sie sind darüber hinaus auch in ihrer Lehrplangestaltung alles andere als «frei». Was als «systemrelevant» erachtet wird und -beispielsweise – in einem durch Corona-Verordnungen eingeschränktem Stundenplan unterrichtet werden darf oder muss, entscheidet im Zweifelsfall eben dieses «System», nicht aber die Schule, auch wenn diese in Fächern wie Kunst und Religion Essentialien der kindlichen Entwicklung und Gesundheit sieht, der Salutogenese und Resilienz. Das Attribut «frei» für die real existierenden Waldorfschulen zu verwenden, sollte im Hinblick auf seinen Wahrheitsgehalt noch einmal grundsätzlich überdacht werden, wozu Valentin Wember seit Jahren auffordert.
- Das Prinzip der «kollegialen Führung» der Lehrerinnen und Lehrer wurde in der Krisenzeit an vielen Orten nicht oder nicht hinreichend wirksam, weil entweder überhaupt keine Treffen mehr zustande kamen oder aber die Verständigung unter den Lehrenden über das Ausmaß und den Charakter der Krise nicht gelang – und die schwierige Thematik, aufgrund ihrer hohen sozialen Dissoziationskraft, an vielen Orten umgangen wurde, um wenigstens einen minimalen sozialen Zusammenhalt zu bewahren.
- Die sogenannte «Schulgemeinschaft» ist eine überaus fragile Größe. Viele Eltern und nicht wenige Oberstufenschüler fühlen sich in dieser Gemeinschaft in zentralen Entscheidungs- und Zukunftsfragen übergangen, insbesondere in Krisenzeiten – und das Prinzip der schulinternen Elternvertreterorgane und Gremien kann zu einer eigenen Welt mit einer spezifischen Eigendynamik werden, die die grundlegende Herausforderung einer Schulgemeinschaft, die zur Konzeption der Waldorfschule gehört, nicht zu lösen und nicht zu ersetzen vermag.
Man kann diese kritischen Punkte – und weitere schmerzlichen Aspekte, darunter die nur sehr bedingte anthroposophische Grundlagenarbeit und -substanz an den Schulen – entrüstet negieren oder sie zerknirscht einräumen und melancholisch bedauern; man kann sie darüber hinaus den überforderten Waldorfschulen und Lehrerkollegien kritisch vorwerfen; all diese Verhaltensweisen führen jedoch in keiner Weise weiter. Wichtig dagegen schiene mir, sich die Tatbestände als solche einzugestehen und sie nicht stillschweigend zu verdecken und zu übergehen. Krisen bergen immer auch Chancen in sich, können zu notwendigen Veränderungen führen, aus der Not heraus. «Zeige deine Wunde», sagte Joseph Beuys, den wir nicht vergessen sollten.
Selg, Peter: Zivilcourage, Verlag des Ita Wegman Instituts,
Arlesheim 2020, Seite 26f
“Es ist, das möchte ich betonen, keineswegs notwendig, dass die Lehrerkollegien in all diesen Problembereichen sachverständig sind; sie oder die Eltern können und sollten jedoch kundige Referenten dazu einladen und sich der Tatsache bewusst sein oder werden, dass sie auch im Hinblick auf die aktuelle, existentielle Krisenlage der Gesellschaft und Zivilisation einen eindeutigen Bildungsauftrag haben.
Ich verstehe diesen Bildungsauftrag und diese Bildungschance dabei nicht nur als eine unterrichtsbezogene und -immanente.
Ich möchte vielmehr daran erinnern, dass in der Stuttgarter Waldorfschule vor 100 Jahren am Abend mitunter «Freie Hochschulkurse» stattfanden, mit hochinteressanten Themen und Referenten, darunter zu brisanten Fragen der Zeitgeschichte.
Der Besuch dieser Veranstaltungen für Studierende war selbstverständlich freiwillig, aber die Oberstufenschüler und die Eltern waren miteingeladen und die Lehrer sowieso (von denen viele auch selbst am Abend referierten und diskutierten).
Ich halte das für ein Zukunftsmodell; die Horizonterweiterung und der geistige Diskurs kommt mit Sicherheit der Schule zu gute, wir haben die notwendigen Räume und Möglichkeiten – und die Schüler sehen, dass wir mit gegenwärtigen und zukünftigen Fragen ringen, uns selbst weiter ausbildend auf den Weg machen, ohne allwissend zu sein. Einige der Schüler würden mit Sicherheit dazu kommen und die Schule würde interessanter und offener werden – eben nicht nur «Schule» im klassischen Sinne.“
Selg, Peter: Zivilcourage, Verlag des Ita Wegman Instituts,
Arlesheim 2020, Seite 62f
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